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Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun entschieden (Beschluss vom 05.04.2022 – 3 StR 16/22), dass – auch wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege – eine Pflichtverteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren dann entbehrlich sei, wenn der Beschuldigte dies nicht beantrage und wenn nicht ersichtlich sei, dass dieser sich nicht selbst verteidigen könne.

Mangelhafte Umsetzung der EU-Richtlinie

Bereits mehrfach hatte ich über die mangelhafte Umsetzung der europäischen Richtlinie zur Prozesskostenhilfe in Strafsachen berichtet – zuletzt hier: https://strafverteidiger-schlei.de/prozesskostenhilfe-im-strafverfahren-regierungsentwurf/. Dabei hatte ich insbesondere kritisiert, dass dem deutschen Gesetzgeber der Grundgedanken der EU-Richtlinie aus dem Blick geraten ist – dass es nämlich im Hinblick auf ein faires Strafverfahren nicht darauf ankommen darf, ob sich jemand einen Verteidiger leisten kann oder nicht (so im Ergebnis auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)). Die EU-Richtlinie hatte daher zum Ziel, ungeachtet vorhandener oder fehlender finanzieller Mittel eine Strafverteidigung sicherzustellen, und zwar ab der ersten Stunde, d. h. ab der ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren.

BGH als Rechtstechniker

Dem BGH ist immerhin zuzugeben, dass er den Wortlaut der Strafprozessordnung zur Pflichtverteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren zutreffend erfasst hat. Er hätte die Regelung jedoch konform dem EU-Recht und der EMRK auslegen können, ja müssen. Es irritiert zunehmend, dass höchste deutsche Gerichte offenbar einem Rechtspositivismus ohne Wenn und Aber anheimgefallen zu sein scheinen. Man kann doch nicht ernsthaft der Auffassung sein, dass es sich im konkreten Fall, der mit einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren wegen Beihilfe zum Mord und Kriegsverbrechen endete, um ein faires Strafverfahren gehandelt hat?

Zudem wiederholt der BGH auch hier sein ständiges credo, das deutsche Strafverfahrensrecht kenne keinen allgemeinen Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot zur Folge habe. Somit habe auch eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge. Warum es sich dabei schon grundsätzlich um eine rechtsstaatliche Sackgasse handelt, hatte ich bereits hier erläutert:

https://strafverteidiger-schlei.de/encrochat-update/

Praxis der Strafverteidigung

Es ist zu hoffen, dass diese Fragen dem Bundesverfassungsgericht und ggf. auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt werden. Die Praxis der Strafverteidigung hat sich jedenfalls bis auf weiteres darauf einzustellen, dass sämtliche Ergebnisse einer solchen Beschuldigtenvernehmung gegen den Mandanten verwendet werden, wenngleich dem in der Hauptverhandlung rechtswahrend zu widersprechen ist.