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Rechtsanwalt Jens Schiminowski (strafverteidiger.team) hat mit einer Verfahrensrüge das Urteil des Landgerichts Aachen vom 16. November 2022 (61 KLs 13/22) durch den Bundesgerichtshof (BGH) aufheben lassen; die Sache muss jetzt in Aachen fast vollständig neu verhandelt werden:

BGH, Beschluss vom 7. November 2023 – 2 StR 284/23.

1. Gegenstand und Ablauf des Verfahrens

Das Landgericht Aachen hatte den von Kollegen aus dem Großraum Aachen verteidigten Angeklagten wegen Vergewaltigung, mehrerer auch gefährlicher Körperverletzungen, Bedrohung und Beleidigung unter Einbeziehung von Strafen aus früheren Verurteilungen zu drei Gesamtfreiheitsstrafen von fünf Jahren und neun Monaten, acht Monaten und fünf Monaten verurteilt. Von weiteren Anklagevorwürfen hatte es ihn freigesprochen. Mit Ausnahme einer vom Angeklagten uneingeschränkt gestandenen Körperverletzung sowie der Beleidigung und der Bedrohung beruhte seine Verurteilung auch auf der Aussage der Nebenklägerin. Die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben hatten die Verteidiger in der Verhandlung mit der Begründung bestritten, die Nebenklägerin habe den Angeklagten in ihrer Aussage u.a. zu Unrecht beschuldigt, es unternommen zu haben, seine Ex-Frau mit AIDS anzustecken, indem er einer mit dem HI-Virus infizierten Bekannten Blut abgenommen und dieses zu einem Treffen mit seiner Ex-Frau in deren Wohnung mitgenommen habe. Sein Vorhaben habe er vor Ort dann aber nicht ausgeführt. Zum Beweis dafür, dass der Angeklagte – entgegen der Aussage der Nebenklägerin – seiner Bekannten weder Blut abgenommen noch sie auch nur darum gebeten habe, hatten die Verteidiger die Vernehmung der Bekannten als Zeugin beantragt. Das Landgericht hatte die Vernehmung der Zeugin mit der Begründung abgelehnt, das behauptete Geschehen sei nicht Gegenstand der Anklage. Ob es zutreffe, sei ohne Bedeutung. Das Beweisthema greife lediglich die „generelle Glaubwürdigkeit“ der Nebenklägerin an. Für die Beweiswürdigung komme es jedoch allein auf eine methodische Gesamtbewertung ihrer Aussage zu den konkreten Tatvorwürfen an. Diese würde die Strafkammer nach Abschluss der Beweisaufnahme unter Einbeziehung der sonstigen Beweismittel vornehmen.

2. Inhalt der BGH-Entscheidung

Auf die Verfahrensrüge hat der Bundesgerichtshof das Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit es – mit Ausnahme einer vom Angeklagten gestandenen Körperverletzung, der Bedrohung und der Beleidigung – auch auf der Aussage der Nebenklägerin beruhte. Er ist der Ansicht der Revision beigetreten, die von den Verteidigern unter Beweis gestellte Tatsache habe deshalb Bedeutung für die Entscheidung erlangen können, weil sie die Bewertung der Zuverlässigkeit der Angaben der Nebenklägerin, auf die das Landgericht die Verurteilung des Angeklagten gestützt habe, habe beeinflussen können. Mit Blick hierauf komme es nicht darauf an, dass das Beweisbegehren einen Sachverhalt betreffe, der nicht von der Anklage umfasst sei. Der Zulässigkeit des Antrags stehe auch nicht entgegen, dass er auf die Feststellung gerichtet gewesen sei, eine bestimmte Handlung habe nicht stattgefunden. Denn diese „Negativtatsache“ sei der unmittelbaren Wahrnehmung durch die Zeugin zugänglich gewesen. Der BGH hat der Revision darin Recht gegeben, dass der Beschluss, mit dem das Landgericht die beantragte Beweiserhebung abgelehnt hatte, den rechtlichen Anforderungen aus § 244 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO gleich in mehrfacher Hinsicht nicht genügte. Zum einen müsse der Tatrichter die Entscheidung darüber, ob die unter Beweis gestellte Tatsache seine Beweiswürdigung beeinflussen würde, auf der Grundlage der bereits durchgeführten Beweisaufnahme treffen. Demgegenüber habe das Landgericht den Angeklagten darauf verwiesen, die gebotene Bewertung erst nach Abschluss der Beweisaufnahme im Zuge der Urteilsberatung vorzunehmen. Zum anderen sei der Tatrichter gehalten, in dem Beschluss seine konkreten Überlegungen dazu offenzulegen, weshalb er aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen ziehen wolle. Demgegenüber lasse der Ablehnungsbeschluss nicht nur die nähere Erörterung der Inhalte sowie der Entstehung und Entwicklung der Aussage der Nebenklägerin vermissen. Vielmehr schweige er sich gänzlich dazu aus, weshalb die unter Beweis gestellte Tatsache, dass die Nebenklägerin den Angeklagten in ihrer Aussage wahrheitswidrig der erstrebten AIDS-Infektion seiner Ex-Frau beschuldigt habe, für die Beurteilung ihres Belastungseifers und dessen Auswirkungen auf die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen ohne jede Bedeutung sein solle.

3. Bedeutung für die Verteidigungspraxis

Mit seiner Entscheidung hat der Bundesgerichtshof das gerade für die Verteidigung besonders wichtige Recht des Angeklagten, Einfluss auf die gerichtliche Beweisaufnahme zu nehmen, weiter gestärkt. Der Angeklagte kann danach vom Tatgericht die Aufklärung auch solcher Tatsachen verlangen, die zwar nicht unmittelbar mit den Anklagevorwürfen in Zusammenhang stehen, die sich aber auf die Beurteilung der Angaben eines Belastungszeugen auswirken und dessen Glaubhaftigkeit in Zweifel ziehen können. Die Aufklärungspflicht erstreckt sich dabei auch auf „Negativtatsachen“, wenn diese der unmittelbaren Wahrnehmung des Zeugen, dessen Vernehmung beantragt wird, unterliegen.

Die Entscheidung aus Karlsruhe hält die in der Tatsacheninstanz verteidigenden Kolleginnen und Kollegen dazu an, für die Erstreckung der Beweisaufnahme auf alle Umstände zu sorgen, die für die umfassende Beurteilung der Angaben eines Belastungszeugen und dessen Zuverlässigkeit Bedeutung haben können – nicht nur, wenn „Aussage gegen Aussage“ steht.

Sie hält die Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger zudem eindringlich dazu an, innerhalb der Revisionsbegründungsfrist eingehend zu prüfen, ob das Tatgericht jedem Beweisbegehren des Antragstellers nachgegangen ist und verneinendenfalls, ob ein Beweisantrag durch Beschluss abgelehnt wurde, ob dieser Beschluss den rechtlichen Anforderungen an seine Begründung genügt und ob sich das Gericht bei der Ablehnung eines Beweisantrags von zutreffenden rechtlichen Erwägungen hat leiten lassen. Denn ein begangener Gesetzesverstoß wird regelmäßig zur Aufhebung des Urteils durch das Revisionsgericht führen. Das Revisionsgericht darf den Verfahrensfehler jedoch nur dann zur Kenntnis und zum Anlass der Urteilsaufhebung nehmen, wenn der Beschwerdeführer ihn bereits in der Revisionsbegründung in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Weise dargelegt und gerügt hat. Dies setzt in aller Regel vertiefte Kenntnisse des revisionsgerichtlichen Verfahrens und seiner Besonderheiten voraus.

Als auf Revisionen von Strafurteilen spezialisierter Rechtsanwalt und Strafverteidiger berate ich Sie gerne zu Ihrem konkreten Fall. Rufen Sie mich an oder schicken Sie mir eine eMail an: schiminowski@strafverteidiger.team