Gestern hatte ich den Referentenentwurf zur Umsetzung der sogenannten PKH-Richtlinie in Strafsachen bereits grundsätzlich deswegen kritisiert, weil er den Leitgedanken dieser EU-Richtlinie nicht aufgreift. Leitgedanke der PKH-Richtlinie ist, dass auch finanzschwachen Beschuldigten in Strafverfahren stets ein Anwalt zur Seite steht – dass also das derzeitige Privileg finanzstarker Beschuldigter beseitigt wird. Heute möchte ich nun doch auf einige wenige Einzelheiten des Referentenentwurfs eingehen, da auch diese von großer Bedeutung wären, sollte der Entwurf so umgesetzt werden:
1. Verbesserungen gegenüber dem Status Quo
a) Zu begrüßen ist, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht mehr nur dann vorliegen soll, wenn im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht verhandelt wird, sondern auch dann, wenn vor dem Schöffengericht verhandelt wird.
b) Zu begrüßen ist weiter, dass ein Verteidiger nicht nur notwendig ist, wenn es um ein angebliches Verbrechen – also um eine im Mindestmaß mit einem Jahr Freiheitsstrafe zu ahndende Tat – geht, sondern stets dann, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr im Raum steht – egal, ob aufgrund eines Verbrechens oder eines (bloßen) Vergehens
2. Fragwürdiges etc.
a) Zumindest fragwürdig ist jedoch, dass ein Pflichtverteidiger nicht in allen Fällen zu bestellen ist, in denen mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe zu rechnen ist – sei es auf Bewährung oder nicht.
b) Fragwürdig ist es auch, warum es im neugefassten § 141 Absatz 3 StPO wie folgt heißen soll:
„(3) Im Vorverfahren dürfen Vernehmungen des Beschuldigten oder Gegenüberstellungen mit dem Beschuldigten abweichend von Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 vor der Bestellung eines Verteidigers durchgeführt werden, soweit dies
1. zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich oder
2. zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens zwingend geboten ist.
Das Recht des Beschuldigten, jederzeit, auch schon vor der Vernehmung oder Gegenüberstellung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen, bleibt unberührt.“
Warum der Beistand eines Verteidigers gerade in derart heiklen Situationen entbehrlich sein soll, bleibt rätselhaft. Zumal – dazu unten noch mehr – von der Bestellung eines solchen Pflichtverteidigers, der nicht rechtzeitig verfügbar ist, ja abgesehen werden darf. Die Möglichkeit, statt eines Pflichtverteidigers einen Wahlverteidiger hinzuziehen zu dürfen, hilft in der Praxis kaum.
c) Wenig Gutes verheißt die Ergänzung in § 142 Abs. 3 StPO (Unterstreichung der Ergänzung durch mich):
„Ein von dem Beschuldigten innerhalb der Frist bezeichneter Verteidiger ist zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht; ein wichtiger Grund liegt auch vor, wenn der Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht.“
Die Nicht-Rechtzeitigkeit als Ablehnungsgrund erinnert an die frühere und überwunden geglaubte Praxis, nur ortsansässige Pflichtverteidiger zuzulassen.
d) Rätselhaft ist auch, was Absatz 4 des neugefassten § 142 StPO mit „geeignet“ meint. § 142 Absatz 4 StPO regelt, dass dann, wenn der Beschuldigte keinen Pflichtverteidiger benennt und also das Gericht diesen aussucht (oder künftig zunächst ausnahmsweise die Staatsanwaltschaft), „… entweder ein Fachanwalt für Strafrecht oder ein anderer Rechtsanwalt, der gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat und für die Übernahme der Verteidigung geeignet ist, ausgewählt werden“ müsse. Was meint „geeignet“ genau? Und warum sollte derlei der Richter (oder Staatsanwalt) beurteilen (können)? Es ist doch gerade Wesensmerkmal der oft gescholtenen zweistufigen deutschen Juristenausbildung, dass die späteren Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte diese gemeinsam durchlaufen und allesamt mit der sogenannten Befähigung zum Richteramt abschließen. Sattelfestigkeit z.B. in der Strafprozessordnung ist so oder so, hier wie dort nicht garantiert – leider. Konsequenterweise müsste man m.E. entweder den Beurteilungsmaßstab objektivieren – also z.B. nur aus den Fachanwälten für Strafrecht auswählen. Oder man streicht diesen Passus gänzlich, was verfassungsrechtlich unbedenklicher erscheint.
e) Und schließlich: Auch wenn es zu begrüßen ist, dass im neugefassten § 144 StPO das Recht der Sicherungsverteidiger kodifiziert werden soll (je nach Verfahrensumfang und Schwierigkeit bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger), so gibt die weitere Ausgestaltung der Regelung Anlass zur Sorge, in der Praxis zu Unsicherheiten und Streitigkeiten zu führen. Denn dort heißt es in Satz 2:
„Die Bestellung ist aufzuheben, sobald die Mitwirkung des zusätzlichen Verteidigers zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens nicht mehr erforderlich ist. § 142 Absatz 3 bis 5 Satz 1 gilt entsprechend.“
Vorzugswürdig erschiene mir: einmal bestellte Pflichtverteidiger behalten ihre Stellung bis zum Verfahrensende.
3. Ausblick
Im Übrigen bleibt zu hoffen, dass sich im weiteren Gesetzgebungsprozess noch für Beschuldigte hilfreiche Korrekturen ergeben sowie dass außerdem die EU-Richtlinie 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder zügig und zutreffend umgesetzt wird, so dass jedenfalls für jugendliche Beschuldigte ein faires Verfahren bald besser sichergestellt ist.