In meinem ersten Post zum Jugendstrafrecht hatte ich die Begriffe Strafmündigkeit und Verantwortungsreife erläutert. Dabei ging es darum zu klären, wann das Handeln eines Jugendlichen überhaupt strafbar ist.
Heute soll es darum gehen, wen das Gesetz als Heranwachsenden ansieht und unter welchen Voraussetzungen dessen Handeln noch dem (überwiegend vorteilhaften) Jugendstrafrecht oder aber bereits dem Erwachsenenstrafrecht unterfällt.
Heranwachsender
„Heranwachsender“ ist, wer (kumulativ)
- zur Tatzeit bereits das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, aber noch nicht 21 Jahre alt ist und
- der (alternativ) entweder zur Tatzeit nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand – sog. Reiferückstand – oder aber die Tat jugendtypisch war – sog. Jugendverfehlung.
Während die Altersfrage zumindest in der Theorie einfach zu beantworten ist, bedürfen die weiteren Voraussetzungen einiger erläuternder Worte.
Reiferückstand
Zur Beurteilung der Frage, ob ein Reiferückstand vorliegt oder nicht, orientiert man sich vorrangig an den sog. Marburger Richtlinien. Danach lauten die Kriterien verkürzt wie folgt:
- realistische Lebensplanung
- Eigenständigkeit im Verhältnis zu Eltern, Gleichaltrigen, Partnern
- hinreichende Alltagsbewältigung
- adäquate Freundschaften
- Bindungsfähigkeit
- Verantwortungsbewußtsein in Bezug auf Ausbildung, Arbeit, Sexualität
- stabile Stimmungslage
Jugendverfehlung
„Jugendverfehlung“ meint solche Taten, die bereits nach ihrem äußeren Erscheinungsbild jugendliche Unreife zeigen. Aber auch jugendtypische Motivation kann für eine Jugendverfehlung sprechen. Hierzu zählen (nicht abschließend): Abenteuerlust, Gruppendelikte, Imponiergehabe, Mutproben …
Auch schwere Straftaten können jugendtypisch motiviert sein, so z. B. der (schwere) Raub, etwa um vor der Clique die „notwendigen“ Statussymbole vorweisen zu können, oder die in letzter Zeit sich – trotz verschärfter Sanktionen – zunehmender Beliebtheit erfreuenden Autorennen.
Dass auch Erwachsene derlei Straftaten begehen, und zwar durchaus auch aus ähnlichen Motiven, spricht anerkanntermaßen nicht gegen die Einordnung als Jugendverfehlung.
Im Zweifel ist Jugendstrafrecht anwendbar
Es gilt folgender Grundsatz: Im Zweifel ist Jugendstrafrecht anwendbar. Die Praxis zeigt, dass Jugendstrafrecht umso eher angewendet wird, je jünger der Täter ist und je schwerer der Tatvorwurf wiegt.
Es ist Aufgabe des Strafverteidigers, auf die zutreffende Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende zu achten, hierfür zu argumentieren und ggf. auch zu kämpfen.